Madrid Fusión – Seafood 2.0
Vom 13. bis 15. Januar fand in Madrid zum 18. Mal die Fusión statt. Das Thema der diesjährigen Austragung lautete «Essenzielle Küche». Und da können wir uns – insbesondere im Bereich Seafood – auf etwas gefasst machen ...
Es sei vorweggenommen: In keinem Vortrag, in keinem Workshop und auf keinem Stand der diesjährigen Madrid Fusión waren Menschen anzutreffen, die den Klimawandel ernsthaft in Frage stellen. Viel zu stark sind inzwischen selbst die grossen und industriell tätigen Akteure von den sich verändernden Bedingungen in der Land- und Viehwirtschaft, der Fischerei und der Lebensmittelverarbeitung betroffen.
Entlang der gesamten Wertschöpfungskette suchen die Marktteilnehmer mittlerweile nach Alternativen, wie sie ihre Bedingungen möglichst rasch (wieder) verbessern und auch mittel- bis langfristig sichern können. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die diesjährigen Referenten mehrheitlich kulinarische Themen aufgriffen, die neue Wege aufzeigen, wie man in Zukunft nicht nur die eigenen Restaurantgäste verwöhnen, sondern auch den Rest der Bevölkerung mit qualitativ hochstehenden und nahrhaften Lebensmitteln versorgen kann:
Megatrend Seafood 2.0
Spanien verfügt über eine Küstenlinie von fast 5000 Kilometern und hat Anstoss an den Atlantik und das Mittelmeer. Diese geografische Lage hat dazu geführt, dass Fisch stets ein zentraler Bestandteil des Speiseplans war und bis heute geblieben ist. Damit sind die Iberer ganz besonders von der Überfischung der (Welt-)Meere betroffen und suchen in diesem Sektor fieberhaft nach alternativen Ansätzen, was den Fang, die Zucht, die Lagerung und die Zubereitung von Meeresgetier anbelangt. Hierbei erhalten sie unterdessen auch namhafte Unterstützung aus dem Ausland:
Key Speaker war der junge australische Spitzenkoch Josh Niland, welcher derzeit in Sydney mit seiner Fish Butchery und einem komplett neuen Ansatz die Verarbeitung und Zubereitung von Fisch revolutioniert (siehe dazu auch den Schwerpunktartikel in der Zeitschrift marmite 1/2020, die Anfang Februar am Kiosk erscheint).
Niland fordert, dass Fische nach ihrer Tötung nicht mehr wie bis anhin ständig auf Eis gelegt oder gewässert werden. Vielmehr sollen sie künftig durch rasches und sorgfältiges Ausweiden, Abtrocknen und Abhängen (je nach Fischsorte bis zu drei Wochen bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt und einer Luftfeuchtigkeit von 70 Prozent) länger haltbar gemacht und vor allem geschmacklich aufgewertet werden.
Niland plädiert ausserdem für die Verwendung des ganzen Fisches, also auch der Innereien und weiterer unpopulärer Teile wie Augen oder Zunge. Letztere tischt er beispielsweise in seinem ebenfalls in Sydney gelegenen Restaurant Saint Peter in frittierter Form als Chips auf. Dass durch seine innovativen Aging-Methoden auch Fischarten in den kulinarischen Fokus gerückt werden, die bis anhin aus geschmacklichen Gründen nicht zu den beliebten Speisefischen zählten, macht das Ganze aus ökologischer (und wirtschaftlicher) Sicht zusätzlich spannend.
Fish Aging made in Japan
Eine diametral entgegengesetzte Methode, um Fisch reifen zu lassen, verwendet Koji Kimura aus dem Sushi Kimura in Tokio: Der japanische Chef, der zwei Tage nach Niland an der Fusión auftrat, blutet das Tier zunächst komplett aus, entfernt die Innereien und behandelt den Fisch anschliessend in einem aufwändigen Prozess mit (viel) Wasser, (wenig) Salz und Kälte. Je nach Grösse und Alter dauert es bis zu 60 Tage, bis der arttypische Fischgeschmack sein Optimum erreicht hat.
Das Thema Fisch ist allerdings nur ein Teil der neuen Bewegung, die sich eine nachhaltige Nutzung der Meere auf die Fahnen geschrieben hat: Immer mehr Geschöpfe aus dem Meer tauchen in der (Spitzen-)Küche auf, die bislang gar nicht oder kaum auf der Speisekarte gestanden hatten.
Seeigel, Seegurke & Co.
Ein schon etwas bekannteres Beispiel dafür ist der Seeigel, der spätestens in aller Munde ist, seit René Redzepi ihn sich aus dem Nordatlantik ins Noma liefern lässt. Dass man frischen Seeigel isst, ist allerdings keine Errungenschaft der nordischen Küche, im Gegenteil. Im Mittelmeerraum schätzt man diese stachligen Viecher seit Jahrhunderten als schmackhafte Nährstofflieferanten.
Exemplarisch für den neuen Umgang mit Seafood ist auch die Seegurke. Spanische Fischer verarbeiten diese seit je in einfachen Reis- und Nudelgerichten. Neu ist hingegen, dass der «Penis des Meeres», wie Seegurken aufgrund ihrer Form im iberischen Volksmund abschätzig genannt werden, inzwischen zur teuren Delikatesse geworden ist, die vor allem in der Luxus-Gastronomie mehr und mehr Anklang findet.
Von Eingeweiden und Schuhsohlen
In Spanien wird nur der innere Teil der Cohombro (oder Pepino) de Mar gegessen, genauer gesagt die sogenannten «Espardenyas». Damit werden die aus fünf längsliegenden Muskeln bestehenden Faserstränge bezeichnet, die sich im Innern der Seegurke über die gesamte Länge des Tieres hinziehen und in ihrer Textur grosse Ähnlichkeit mit der Navajas-Muschel haben.
Ihren Namen verdanken die Espardenyas übrigens den hierzulande als Espadrilles bekannten Sommerschuhen. Die beiden Begriffe werden in Spanien synonym verwendet, und die aus Esparto-Gras geflochtenen Sohlen der Espadrilles ähneln von ihrer Optik her tatsächlich den gerillten Innereien der Seegurke.
Vicky Cheng – nur das Äussere zählt
«Ihr mögt das Innere», flachste Sterne-Koch Vicky Cheng aus Hongkong in Richtung des spanischen Publikums. «Wir Chinesen bevorzugen hingegen die äusseren Teile der Seegurke!» Während der Präsentation seines Rezeptes, das er aus getrockneter Seegurke kreierte, gab er nach und nach preis, dass die meisten Chinesen von deren Verzehr posttraumatisiert seien. Sie hätten diese als Kinder von ihren Müttern aus gesundheitlichen Gründen (wegen ihres hohen Proteingehalts) vorgesetzt bekommen, und der Geschmack und die Konsistenz seien einfach grauenhaft gewesen.
Chengs Mission war es deshalb, in seinem hochdekorierten Restaurant VEA in Hongkong aus den in ganz Asien erhältlichen getrockneten Seegurken – die qualitativ besten und damit auch teuersten sind jene mit der grössten Anzahl Stacheln – ein Gericht zu kreieren, das die alten Vorurteile widerlegt und gleichzeitig Werbung für weitere in der chinesischen Küche verwendete getrocknete Meeresfrüchte macht.
Ersteres ist ihm zweifellos gelungen – Chengs Neu-Interpretation von Seegurke wird inzwischen von Fans aus der ganzen Welt bestellt. Sein zweiter Wunsch erscheint allerdings eher illusorischer Natur: Bis getrocknete Seegurken die richtige Konsistenz für eine Zubereitung erreichen, braucht es eine komplizierte Wässerung, die aus mehreren Schritten besteht und fast eine Woche dauert. Und Geduld ist bekanntlich nicht jedermanns Tugend …
Ángel León – Vom Plankton zum Strandwurm
Noch einen Schritt weiter geht der Pionier der Meere, Ángel León: Der andalusische Spitzenkoch hatte schon vor einigen Jahren weltweit Aufsehen erregt, als er als erster Koch in seinem Restaurant Aponiente in El Puerto de Santa Maria Gerichte aus selbst gezüchtetem Plankton kreierte und seinen Gästen nebenbei Beifang auftischte, der als Trompe l’oeil daherkam und aussah wie Edelfisch.
Auch dieses Jahr überraschte Ángel León mit innovativen Vorschlägen für die Gewinnung von neuen Zutaten aus dem Meer. Insbesondere seine Experimente mit Sand- oder Strandwürmern lassen aufhorchen. Vor deren Zubereitung stülpt er ihr Inneres nach aussen und bereitet sie zu einem schmackhaften Mahl zu, das durchaus das Zeug zu einem künftigen Klassiker haben könnte – sofern man seine innere Abneigung überwindet (siehe auch das Einstiegsbild zu diesem Artikel).
Doch es ist nicht nur das Tierische aus dem Meer, das zum Verzehr geeignet ist. León zeigte auch auf, wie sich aus einer bestimmten, in seiner Region in Hülle und Fülle vorkommenden Grünalgenart namens Ruppia Maritima (= Quastengras), ein schmackhafter, süsser, dunkelbrauner Brei herausdestillieren lässt, den er «Miel de Mar», also Meereshonig nennt. Und auch aus Gräsern, das an den Stränden Andalusiens wächst, zaubert Ángel León Saucen, die bestens zu seinen Fisch- und Krustentier-Gerichten passen.
Eindeutig den Vogel schoss Ángel León aber mit einem Verpflegungsprojekt für Schulkinder ab, das er zusammen mit der Compass Gruppe entwickelte: Um den Kleinen ihre Abwehrhaltung gegenüber Fisch zu nehmen, hat León eine Pasta entwickelt, die zu 80 Prozent aus Fisch, zu 15 Prozent aus Stärke und zu fünf Prozent aus Wasser besteht. Gar zu 100 Prozent aus Fisch sind die «Hähnchenkeulen» und «Pommes Frites» aus der gleichen Denke. Seit der Umstellung auf diesen neuen Fast Food hat die Schule praktisch keine Resten mehr.
Juan Roca – auch invasive Arten gehören auf den Speiseplan
Alles andere als Fake und schon gar kein Trompe l’oeil war der (Teil-)Beitrag von Juan Roca aus dem El Celler de Can Roca zur Thematik: Wie León plädiert Roca (nebst vielem anderen) dafür, dass invasive Arten – ob sie nun aus der Pflanzen- oder Tierwelt und woher auch immer kommen – auf jeden regionalen Speisezettel gehören. Wenn zugewanderte Arten schon die alteingesessenen Spezies verdrängten, so Rocas Ansage, solle sich der Mensch doch aus dem erneuerten Warenkorb bedienen und die Eindringlinge zumindest kulinarisch verwerten.
Lebendige Aale aus der Kapsel
So bleibt nach dem avant-gardistischen Koch-Spektakel in den Madrider Messehallen viel Essenzielles, Experimentelles und Eindrückliches in Erinnerung. Wer noch immer nicht genug hat von Seafood 2.0, dem sei ein Quallenrezept von 3-Sterne-Chef Corey Lee (Benu, San Francisco) aus dem Jahr 2015 ans Herz gelegt (in englischer Sprache). Und solange wir keine kleinen Aale bei lebendigem Leib aus einer Kapsel schlürfen müssen, wie das Andoni Luis Aduriz vom Mugaritz in San Sebastian in seinem Abschlussreferat vorschlug, werden wir uns all die spannenden Tipps und Inputs gerne zu Herzen nehmen und dadurch unseren kulinarischen Horizont mit Sicherheit erweitern.
Madrid Fusión
Der berühmteste Koch-Event der Welt hatte erstmals bei seiner Premiere im Jahr 2003 für Furore gesorgt, als spanische Avant-Gardisten wie Ferran Adrià, Andoni Luis Aduriz, Quique Dacosta, Martín Berasategui oder Juan Mari Arzak auf die Bühne traten, eigene Rezepte präsentierten und dabei nicht nur Einblick in ihre Töpfe und Pfannen, sondern auch in ihre Gedankenwelt gaben.
Seither setzt die Madrid Fusión den internationalen Benchmark für Kochsymposien und wartete auch im Jahr seiner Volljährigkeit wieder mit einem hochkarätigen Programm aus intensiven und zuweilen auch nachdenklich stimmenden Beiträgen auf. Rund um die Vorträge von vor allem spanischen, aber auch weiteren Spitzenköchen aus der ganzen Welt präsentierten 230 vorwiegend einheimische Aussteller eine Fülle an regionalen Spezialitäten und Delikatessen. Und erstmals fand im Rahmen der Madrid Fusión auch ein internationaler Pâtisserie-Kongress statt (Madrid International Pastry).
Zusätzliche Informationen
Weiterführende Literatur sowie zahlreiche Blog-Einträge zur diesjährigen Madrid Fusión und weiteren spannenden Themenbereichen sind in englischer Sprache unter https://www.madridfusion.net/en/ nachzulesen.
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