Wie der Hase läuft

28. November 2018

Roger Zogg und Sandro Zinggeler verbindet eine Gemeinsamkeit. Sie leben ihre Leidenschaften: das Jagen und das Kochen. Wir haben einen lehrreichen Streifzug gewagt. Man höre und staune.

Bilder: Lukas Lienhard

Der Morgen ist früh in Savognin, Nebel hat sich in den Bergen verfangen, kühl ist es – und dennoch stehen die Chancen auf ein paar Sonnenstrahlen nicht so schlecht. Vom Wetter her der perfekte Tag für die Jagd, aber solch überdrehtes Untlerländergetue kommt in der Beiz schlecht an. Sandro trägt gelbe Socken, die Rätoromanen am Stammtisch grinsen. Roger – auf der Jagd duzt man sich – kennt eine Jagdgemeinschaft in Ratitsch, oberhalb von Salouf. Dorthinauf wollen wir, weil es für Roger eines der schönsten Gebiete in Surses ist, reich an Rotwild, aber auch Gämsen und Murmeltiere treffe man dort an, schwärmt er.

Jagd ist nicht gleich Jagd

«Mit meinem Sohn jage ich normalerweise in Monstein bei Davos», sagt Zogg und wenn er jagen sagt, meint er in diesem Fall die Bündner Patentjagd. Das Gegenteil ist die Revierjagd, bei der eine Jagdgemeinschaft ein Revier pachtet und dieses exklusiv bejagt. Auf Revierjagd trifft man Roger in Vorarlberg an, im grossen Walsertal, wobei man nie genau weiss, ob der Hirsch nun ein Engadiner oder ein Vorarlberger ist. Wildtiere sind eben grenzenlos. Verwirrend ist, dass die Patentjagd in Graubünden auch eine Art Revierjagd ist, was viel mit Gewohnheitsrecht zu tun hat. Also. Im Prinzip darf jeder mit einer Prüfung, ergo einem Patent, überall in Graubünden auf die Jagd. Dennoch gilt das ungeschriebene Gesetz, dass, wer mehrere Jahre am selben Ort jagt, irgendwann das Gebiet als sein Revier beansprucht. So, wie Peder Baltermia und seine Freunde in Ratitsch, zu denen wir jetzt fahren. Sandro, der Mitsubishi-Botschafter, lenkt den weissen Pick-up über die enge Waldstrasse, die in Richtung Wallfahrtsort Ziteil führt. Pilze spriessen am Wegesrand, und wer den Kopf aus dem Fenster streckt, riecht den Wald, der sich wohl gerade frisch gewaschen hat.

Respekt vor den Tieren

Willkommen auf der Bündner Hochjagd, die vom 1. bis 9. September und ferner vom 19. bis 30. September andauert. «Sie verläuft zäh dieses Jahr», meint Roger, somit werden alle Tiere, die nicht in diesem Zeitraum erlegt werden, in einer Nachjagd fällig. «Die Bestandsregulierungen nimmt man vor, damit der Druck auf den Forst nicht zu gross wird, denn selbst wenn der Winter sehr streng war, nimmt der Bestand an Rotwild zu», so Roger, der seit über 30 Jahren Jäger und Schweisshundeführer ist. «Ich war der einzige Enkel, der dem Grossvater in die Flumserberge auf die Jagd gefolgt ist», erzählt er. Und sein Grossvater war noch ein anderes Kaliber. «Wenn seine Kinder Lust auf Fleisch hatten, sagte er, sie sollen es selber schiessen. Er war ein Wilderer», erzählt Roger Zogg, aber die Zeiten waren damals eben auch andere. Besonders für Kleinbauern mit Grossfamilie. Bereits der Grossvater hatte Laufhunde. «Eine Jagd ohne Hund ist für mich keine Jagd», sagt Roger. Seine «Lady», so heisst sie wirklich, «ist im neunten Behang», sagt Roger. «Das heisst, dass sie im nächsten Jahr zehn Jahre alt wird und als Schweisshund vielleicht noch zwei Jahre einsatzfähig bleibt», erklärt er den Laien. Die Arbeit eines Schweisshundes, der angeschossenes Wild aufspürt, ist nicht ungefährlich, und nicht selten kommt es vor, dass ein Wildtier den Hund mit seinem Geweih «forkelt» – verletzt oder gar tötet. «Wenn ein Hund stirbt, leide ich extrem und bin für eine Woche kaum ansprechbar», sagt Zogg, den man in die Kategorie der gefühlsbetonten Jäger einordnen darf. «Mir geht es um den Respekt vor dem Tier», sagt er und diesen Respekt sollen der Jäger, der Metzger und der Koch zum Ausdruck bringen. «Wenn ich ein Tier erlege, werde ich sehr emotional», sagt Roger, die letzten 20 Meter müsse er alleine zum Tier hin, um sich gebührend zu verabschieden und mit dem Tier zu beten, danach ist das Ritual für mich abgeschlossen und die Jagdfreunde können aufrücken», sagt er. Es gibt viele Jagdarten, die ihm ein Graus sind, dazu zählen auch der Jagdtourismus, Treib- oder Drückjagden. Man merke: Jagd ist nicht gleich Jagd und Jäger nicht gleich Jäger.

Wer schiessen will, muss warten

Mittlerweile sind wir angekommen in Ratitsch. «Das ist keine Alp, das ist ein Maiensäss, erklärt Peder Baltermia, der in Salouf aufgewachsen ist und die Jagdfreunde hier oben kulinarisch versorgt. Bei ihm werden wir später auf dem Holzofen kochen, denn er ist nicht nur Jäger und Redaktor der rätoromanischen Zeitung «La Pagina da Surmeir», sondern auch ein begnadeter Hobbykoch, der Sandro über die Schultern schauen möchte. «Früher gab es Alp und Maiensäss», sagt er. Damals hätte man in einer Dreistufenlandwirtschaft gearbeitet, vom Tal aufs Maiensäss, danach auf die Alp und umgekehrt wieder hinunter. Doch heute seien die Aclas, wie man sie auf Romanisch nennt, mehr oder minder zu Feriendestinationen umfunktioniert worden.

«Wildbret hat einen feinen Geschmack, da die Tiere in freier Wildbahn ausschliesslich Kräuter oder Gräser fressen. Stammt ein Hirsch aus der Zucht, schmeckt auch das Fleisch intensiver, vor allem nach Kraftfutter.» Roger Zogg

In Ratitsch, am Fusse des Piz Toissa, des Hausbergs von Salouf, stehen 16 wunderschöne Holzgebäude, die reinste Ballenberg-Szenerie. Es ist später Morgen und aus dem einen oder anderen Haus dringt warmes Holzofengelächter. Wir möchten auf die Pirsch und sehen, ob wir etwas sehen. Aber bevor wir in Richtung Wald loslaufen, reicht Zogg Zinggeler seinen Flachmann, mit der linken Hand, weil auf der Jagd alles mit links läuft. «Pflaumenschnaps», meint Sandro, «gebrannte Arve», kontert Roger. Lieber austrinken statt auslernen. Immer wieder laufen wir an Lauerposten vorbei, zwischendurch kauern wir, warten, beobachten, spiegeln, ziehen weiter.

Warten. Und warten

Jagen heisst warten. Liegen. Lugen. Hocken «und nicht schiessen», resümiert Sandro unsere erfolglose Aussicht auf die Tierwelt. Ohne Trophäe kehren wir nach unserer Pirsch zurück nach Ratitsch, wo Peder uns bemitleidenswert anblickt. «Auf die Jagd geht man früh am Morgen oder beim Eindunkeln», sagt er, «dazwischen liegen die Tiere herum», so, wie die richtigen Jäger. Klar hat Roger das gewusst, deswegen hat er in der Kühlbox auch eine selbst erlegte Gämse mitgebracht. «Unsere mise en place», witzelt Sandro, der nun das Zepter respektive die kleine Küche im Maiensäss von Peder übernimmt. Alle Gebäude hier stammen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, sie sind mehr oder weniger luxuriös ausgebaut, bei Peder ist es picobello. Vorratskammer, Holzofen, die Küche, schön warm ist es, und bei Sandro wird man das Gefühl nicht los, als würde er gerade vor der Kamera stehen und eine Kochsendung moderieren. «Einen Bezug zur Jagd habe ich nicht», sagt er, das sei seine Premiere. Man merkt es kaum.

Spontan und in Windeseile

Dann geht es zack, zack. Ins offene Feuer legt er Äpfel und einen grossen Sellerie. «Es geht um den Rauchgeschmack», erklärt er. In einem Pfännchen mit gesalzenem Brunnenwasser lässt er die Gamszungen leise ziehen, «das dauert drei Stunden». Zunge ist nicht das Typischste aus der Jagdküche, aber sicherlich etwas vom Besten. «Vor allem in Arvenholz geräuchert», sagt Roger, der darauf hinweist, dass der Nose-to-Tail-Gedanke auch beim Wildbret eine Rolle spielen sollte. Sandro hat eine Waage mitgebracht, vorsichtig wiegt er das Mehl ab und stellt mit wenigen Kniffen den Teig fürs Schlangenbrot her, «ein Bezug zur Kindheit». Ansonsten läuft alles spontan und in Windeseile.

«Wenn ich ein Tier erlege, werde ich sehr emotional.» Roger Zogg

Peder bleibt beim Staunen: «Das möchte ich mal nachkochen», sagt er. Man merkt, dass Sandro eine klassische Kochlehre absolviert hat, und noch heute sei sein Lehremeister, Domenico Miggiano vom Gasthaus Löwen in Bubikon, der Koch, dem er am meisten Respekt zolle. «Er hat viel gefordert, für mich war die Lehre wie eine Lebensschule, weil ich schon früh ausserhalb des Tellerrandes gedacht habe», erzählt er, während er die Beurre rouge zubereitet. «Klar muss man zuerst einmal das Handwerk lernen, aber warum 15 Stunden in der Küche stehen, wenn es auch anders geht?», habe er sich damals schon gefragt. «Es muss doch möglich sein, einfacher zu kochen, um ein Resultat zu erzielen, dass nicht schlechter, aber anders ist», sagt er, und man kann sich gut vorstellen, was sein Lehrmeister dazu gesagt haben mag.

Am liebsten frei

«Nein, ich bin nicht faul», betont er: «Wenn ich da bin, gebe ich alles, aber ich lasse mir nicht vorschreiben, dass ich 4 Wochen Ferien zugute habe, ich mache dann Ferien, wenn ich sie brauche, und so lange, wie ich kann, diese Freiheit ist mir unendlich wertvoll.» Seine Selbsteinschätzung wird auch von seinen Wettbewerbserfahrungen und allen Engagements ausserhalb einer klassischen Kochkarriere unterstrichen, die sich mehr und mehr intensiviert haben. «Ich habe einfach Lust, auf anderen Schienen zu fahren und mich interessieren unternehmerische Fragen. So wurde mir, speziell in der Spitzenküche, klar, dass in der Gastronomie viele offensichtliche Widersprüche existieren, und das stört mich», erzählt er, während er aus der Hand heraus den Reis zubereitet. «So einen habe ich noch nie gesehen», staunt Peder. Klar, es handelt sich dabei auch um einen Reis des Planeten Venus. Quatsch. Um einen Venus-Reis, der aus Italien, also ursprünglich aus China stammt, wo er Kaisern vorbehalten war. «Soso», meint Zogg unbeeindruckt.

Einfach ist manchmal zu einfach

«In einer Spitzenküche könnte man Kreativität erwarten», erzählt Sandro weiter, aber das Gegenteil sei der Fall. «Spitzenköche grenzen sich oft ein, und die Arbeiter am Herd machen Tag für Tag dasselbe. Mir war meine Zeit dafür zu schade, denn das nimmt dir die Freude am Leben», sagt er. «Ich möchte Spass haben und nicht den ganzen Tag Blättchen zupfen oder passiv auf Instagram gucken, was die anderen so treiben». Die geschmackliche Überraschung, die ihm den Stein des Anstosses zu dieser Denke gegeben habe, sei bei Victor Arguinzoniz vom Asador Etxebarri über ihn gerollt. «In Form eines geräucherten Mozzarellas, der mit einem zerlöcherten Rucola-blatt serviert wurde. Diese geschmackvolle Einfachheit ist für mich das Grösste», sagt Sandro. Aber ja, das Restaurant steht derzeit auf Platz 6 der Liste der 50 besten Restaurants der Welt, was aus «einfach» eben doch nicht so einfach macht. Trotzdem geht es in unserer Showküche zügig voran, und man merkt, was Sandro Zinggeler meint, wenn er von Einfachheit spricht. Das Schlangenbrot noch schnell im Ofen über dem Feuer rösten, schon steht der Dreigänger, der eben nur auf den ersten Blick einfach aussieht. «Improvisation ist für mich die höchste Form der Kreativität», sagt er, und das sei auf der Alp der Fall, denn hier oben gibt es ja keinen Supermarkt. Und kein fliessendes Wasser. Auf der Jagd wird eben selbst das Kochen aufs Wesentliche reduziert. «Aber gell», sagt Peder, «die Rezepte gibst du mir noch.»

Text: Andrin C. Willi

Roger Zogg

Roger Zogg (53) ging schon als kleiner Bub mit seinem Neni, der ein Wilderer war, auf die Pirsch. Zogg ist Architekt, und gemeinsam mit seiner Partnerin Michelle Corrodi hat der passionierte Gamsjäger und Hobbykoch 2017 aus seinem Brotjob einen Wurstjob kreiert und das Label «Wilde 13» – nach Jim Knopf – gegründet. Darunter vertreibt er seither «Wildfleisch mit Biografie» in der Nose-to-Tail-Philosophie. Seine Kreationen findet man in diversen Feinkostläden, aber auch für Spitzenköche wie Andreas Caminada ist Zogg der nimmermüde Jäger des Vertrauens.
wildedreizehn.com

 

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