Saftig. Blutig. Fleischlos.
Fleisch ohne Fleisch. Fisch ohne Fisch. Ei ohne Ei. Burgerbratlinge aus Erbsen, Gyros aus Kräuterseitlingen und Rindfleisch im Labor gezüchtet – eine Geschichte über alternative Proteinquellen und die Zukunft des Essens.
Es ist noch gar nicht lange her, keine 35 Jahre sind es, da wurde meine Mutter von meinen Freunden am Mittagstisch komisch angeguckt. Sie hatte Frikadellen mit den Worten serviert: «Ist ohne Fleisch. Guten Appetit!» Die Verwirrung war gross. Für eine kleine Ewigkeit herrschte eine ratlose Stille, sahen die fleischlosen, grünlichen Buletten ja auch ganz anders aus als sonst. Sie waren aus Grünkern. «Dann sind das auch keine Frikadellen», war die einhellige Meinung schnell gefunden, «Frikadellen müssen aus Fleisch sein. Sonst zählt das nicht!» Und natürlich schmeckten die befremdlichen, leicht nussigen Bratlinge auch so ganz anders – nach Grünkern und Gewürzen eben. Meine Mutter hatte Grünkernschrot etwas grober gemahlen und Tomatenmark, Basilikum, Knoblauch, etwas Fenchel, Salbei und Rosmarin sowie in Würfel geschnittene getrocknete Tomaten dazugegeben. Dieses Mittagessen war wie eine Reise nach Italien, die noch lange im Gedächtnis bleiben sollte.
Zehn Jahre später, es muss Mitte der 90er Jahre gewesen sein, gab es in der Mensa der Kieler Universität grosse Aufregung. Der Kantinenchef hatte es gewagt, Spaghetti «Bolognese» ohne Fleisch auf die Karte zu setzen. Die Verzweiflung war deutlich spürbar. Und wie werden wir nun alle satt? Fast niemand wollte dieses vegetarische Gericht anrühren. Ein paar wenige und ich trauten sich aber doch: Der Koch hatte Tomatensauce, klein gehäckselten Blumenkohl und diverse Gewürze zu einer schmackhaften Bolognese vermengt. Der Unterschied zur echten war gar nicht so gross. Und heute – 25 Jahre später – wird so ein Rezept in den vielgeklickten Foodblogs als «trendy» und «innovativ» abgefeiert: «Bolognese aus Blumenkohl! Wie abgefahren ist das denn!?»
Des Menschen Fleischsucht
Fleisch durch Gemüse oder Getreide zu imitieren, ist nicht neu und spaltet die Lager ähnlich wie die Kontroverse in Sachen Schulpflicht oder die Frage, ob man sein Kind impfen lassen sollte oder nicht. Essen ist hochemotional. Und gerade beim Fleisch scheiden sich die Geister. Was dem einen nicht in die Küche kommt, ist für den anderen das einzig sinnvolle Mahl. Für viele gilt die Veggie-Wurst, das vegane Hack oder das Sojaschnitzel noch immer als sprachlicher Widerspruch. Unter den Artikeln im weltweiten Web finden sich daher schnell einmal 600 und mehr Kommentare. Doch wer sich die gut gefüllten Foren ansieht und die Beiträge liest, merkt sehr schnell, dass die Ausgangsfrage selten sinnvoll besprochen, sondern überwiegend eindimensional im «Ich, ich, ich»-Duktus verläuft oder gar in wüsten Beschimpfungen endet. Viele Menschen sind fleischsüchtig. Sie haben Angst vor einem fleischlosen Dasein. Und diese Angst ist derart gross, dass rationale Argumente komplett verdrängt werden.
Trotz allem ist der Trend eindeutig: Seit Jahren bereits läuft die Suche nach Fleischalternativen auf Hochtouren. Denn mit falschem Fleisch lässt sich viel echtes Geld verdienen. Restaurants und auch Supermärkte überbieten sich mit Angeboten für fleischlose Burger. Die Produkte, die längst auch in vegetarischen Metzgereien in Zürich, Den Haag oder Berlin verkauft werden, sind aus Soja, Erbsen oder Lupinen zusammengepresst. Und während die Hersteller diese als gesünder, nachhaltiger und ethisch besser als die Originale anpreisen, sehen -Kritiker in ihnen hochverarbeitete künstliche Lebensmittel und gestylte Scheinprodukte. Vor allem aber macht diese Suche nach Ersatz deutlich: Wie tief Fleisch und seine Symbolik in unserer Gesellschaft verankert sind.
Hanni Rützler, Trendforscherin des Zukunftsinstituts in Frankfurt am Main, erklärt den Hunger auf vegetarische Wurst auch mit einer extrem ausgeprägten Fantasielosigkeit, was das Essen angeht. «In unserem Kulturraum charakterisiert Fleisch noch immer die Hauptspeise», sagte die Ernährungswissenschaftlerin der Tageszeitung «Die Welt». Alles andere sei lediglich Beilage. «Lässt man Fleisch weg, hinterlässt das ein grosses Loch auf dem Teller.» Schon jetzt aber ist auch klar: Mögen sich die Konsumenten noch so sehr an ihre Schweineschnitzel klammern, auf Dauer wird sich die wachsende Weltbevölkerung nicht mit Fleisch ernähren lassen. Forscher suchen händeringend nach alternativen Eiweissquellen. Inzwischen spielen auch Themen wie Nachhaltigkeit und Tierwohl eine immer grössere Rolle. Und die Zahl derer, die ihren Fleischkonsum reduzieren, aber nicht auf den Fleischgeschmack verzichten wollen, steigt zusehends. Hanni Rützler: «Das alte Paradigma bei der Fleischproduktion – schneller, billiger, mehr – funktioniert nicht mehr.»
Ein Schwein in 66 Teilen
Bern im September 2019: Andrea Staudacher sitzt in ihrem kleinen Garten im Quartier Breitenrain unter Obstbäumen. Die Hühner gackern. Sie hat Gemüse auf extrem wenig Platz mitten in der Stadt gepflanzt. Ihre Idee: Zurück zu den Wurzeln, aber mit Blick in die Zukunft. Die 30-Jährige nennt sich Erlebnisdesignerin. Sie ist Ideengeberin des Future Food Lab und veranstaltet regelmässig «Abende der kulinarischen Zukünfte». Sie will die Ernährung von morgen erlebbar machen. Also hinterfragt sie Essgewohnheiten und durchbricht gängige Muster. Zum Beispiel hat sie das Schlachten gelernt. Von ihr stammt die Installation SCHWEIN#1738: Sie hat das Tier von den Augen bis zur Haxe in 66 Teile zerlegt und Stück für Stück in Blöcke aus Natursilikon gegossen und zur Schau gestellt. Die Museumsbesucher können nun versuchen, das Schwein wieder zusammenzusetzen. «Je genauer sie das schaffen, desto vollständiger und intensiver wird auch das Schlachterlebnis. Ich wollte darauf hinweisen, dass die meisten industriell gefertigten Produkte aus Tieren keinem Lebewesen mehr ähnlich sehen», erklärt sie, «wir essen Objekte aus Tiersubstanz, wie zum Beispiel Chicken Nuggets oder Würstchen, und ekeln uns nicht davor – vor einer blutigen Schweinerippe aber schon.» Im Jahr 2012 hatte Andrea Staudacher zudem damit begonnen, sich mit fleischlosen Alternativen zu beschäftigen. Sie spezialisierte sich auf Insekten. Ihre Bachelor-Arbeit wurde das erste Insektenkochbuch der Schweiz. Damals besorgte sie Heimchen, Mehlwürmer und Heuschrecken nebenan in der Zoohandlung und lud 30 Freunde ein. Sie bereitete die Tierchen auf verschiedenste Weise zu: in der Pfanne in Öl, mit Knoblauch und Chili angeröstet, als Burger oder in Saucen. «Viele Insekten sind reich an Proteinen, ungesättigten Fettsäuren und Mineralstoffen. Sie brauchen viel weniger Futter und Platz als Schweine oder Rinder, können mit Abfällen gefüttert werden und haben einen zehnmal kleineren ökologischen Fussabdruck als das Fleisch, das wir essen», rechnet sie vor.
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