Bühne frei für eine neue vegetarische Dimension
Spitzenkoch Andreas Caminada schliesst im bündnerischen Fürstenau mit seinem neuen, rein vegetarischen Restaurant Oz gekonnt die Lücke zwischen seinem Gourmetrestaurant im Schloss Schauenstein und seiner Bündner Beiz in der Casa Caminada.
Es sei vorgweggenommen. Der Name «Oz» hat nichts mit dem Zauberer von Oz zu tun, der Judy Garland im gleichnamigen Hollywood-Film hilft, aus dem verwunschenen Smaragdland wieder heim nach Kansas zu kommen. «Oz» bedeutet auf rätoromanisch «heute», und das Hier und Jetzt ist Programm im ersten rein vegetarischen Restaurant von Andreas Caminada. Doch der Reihe nach:
In den Räumlichkeiten der bisherigen Remisa
Das neue Lokal befindet sich in der Remisa, der ehemaligen Kutscherwerkstatt von Schloss Schauenstein. Diese hatte Caminada bisher zur Bewirtung von grösseren Gruppen mit dem Angebot aus der Schlossküche genutzt: «Das war für die Gäste schön, aber für mich fühlte es sich irgendwie nie ganz richtig an. Denn für das perfekte Erlebnis im Schloss Schauenstein greifen so viele Details ineinander, dass sich das nicht einfach an einen anderen Ort übertragen lässt.»
Diese leichte, aber latente Unzufriedenheit führte beim 44-jährigen Bündner schliesslich zur Idee, die Remisa aufzulösen und in einen Hotspot für vegetarisches Fine Dining zu verwandeln. Zusammen mit dem befreundeten Gärtner und Naturheilpraktiker Thomas Monn hatte der umtriebige Caminada in den letzten Jahren einen sich stetig vergrössernden Permakulturgarten aufgebaut. Diesen Garten wollte er zum Hauptdarsteller machen, der künftig den Tisch im Oz decken sollte.
Gedacht, getan: Das alte Gemäuer wurde nach den Plänen des Zürcher Inneinrichtungsbüros Gasser, Derungs in ein stimmiges Theater für das neuste Schauspiel von Andreas Caminada verwandelt: Mit einer hell erleuchteten Bühne für die Darsteller, einem abgedunkelten Zuschauerraum und einer nach hinten hinausgehenden, hübschen kleinen Sonnenterrasse, auf welcher die Gäste bei schönem Wetter ungestört ihren Apero oder ganz am Schluss ihres Besuchs einen Digestif geniessen können.
Nur zehn Plätze bietet das vegetarische Restaurant am Gästetresen aus weissem Bergahorn. Und geöffnet ist es lediglich an drei Abenden pro Woche (Donnerstag bis Samstag) sowie am Sonntag zum Lunch. Täglich gibt es nur einen Service. Und für das Wohl der kleinen, aber umso feineren Gästeschar sind gerade einmal zwei Personen zuständig (dazu später mehr).
Ein Permakulturgarten als Basis
Auf den Teller kommt ausschliesslich, was Tag für Tag im hauseigenen Kräuter- und Gemüsegarten gedeiht. Und die Auswahl, auf welche die Küche zugreifen kann, wird da schon einmal zur Qual: Über 700 verschiedene Kräuter, Obst- und Gemüsesorten, darunter nicht weniger als 80 unterschiedliche Tomatenarten, wachsen mittlerweile im Schlossgarten.
Jeden Mittwochmorgen hat die Kochbrigade dort zwei Stunden Gartendienst, ganz im Sinne einer Aus- und Weiterbildung, wo man beim selbstständigen Gärtnern und durch eigene Beobachtung den respektvollen Umgang mit der Natur lernt und Inspiration für Neues und Überraschendes holt. Und einer, dem das immer ganz besonders gefallen hat, ist Timo Fritsche.
Der 37-jährige Deutsche ist im Dezember 2019 aus dem La Vie im deutschen Osnabrück (bis dahin unter der Leitung von Thomas Bühner ausgezeichnet mit 3 Michelin-Sternen) zu Caminada nach Fürstenau gekommen. Zunächst als Küchenchef fürs Schloss, anschliessend half er seinem Chef ein halbes Jahr lang bei der Recherche und Realisierung von dessen Kochbüchern. Und nach einer weiteren Etappe in der Schlossküche als Stellvertreter Caminadas wurde Timo Fritsche von diesem im April dieses Jahres schliesslich mit dem Posten des Küchenchefs im neuen Oz betraut.
Veredeltes als Menü-Konstante
Neben seinem Faible für Frisches aus dem Garten hat sich der Norddeutsche seit Jahren mit dem Thema Fermentation auseinandergesetzt. Das kommt dem hochtalentierten Koch nun im Oz zugute, wo nebst den rohen Frischprodukten auch viel Gekochtes, Gegrilltes, Getrocknetes, Gedörrtes, Eingemachtes und eben Fermentiertes aus dem Garten aufgetischt wird. Das hat einerseits damit zu tun, dass die sehr kurze saisonale Verfügbarkeit wie auch die geringen Anbaumengen nicht ausreichen würden, um den Restaurantgästen ausschliesslich frische Rohprodukte aus dem Garten zu servieren.
Tolle und unerwartete Getränkebegleitung
Andererseits wäre eine solche Beschränkung auch nicht zielführend, wie sich exemplarisch am in der Schweiz wohl einzigartigen Menü-Salat zeigt: Dieser besteht aus rund 30 Zutaten, die alle am Morgen im Garten gepflückt werden und als wilder Blätter-, Kräuter-, Blüten- und Samen-Mix aufgetragen wird. Das Dressing auf der Basis von fermentiertem Kohlrabisaft schafft es nicht, all die kleinen Geschmacksexplosionen im Zaum zu halten, die beim Verzehr wie übermütige Fohlen kreuz und quer durch den Gaumen galoppieren.
Da braucht es schon einen tiefen Schluck aus der ebenfalls ungewöhnlichen Getränkebegleitung (einem aus Gerstenmalz und Traubenmost hergestellten Italian Grape Ale aus Poschiavo), um die vor Aufregung zitternden Jungpferde einzufangen und wieder zu beruhigen.
Dass solche geschmacklichen Husarenritte überhaupt zugelassen und auch immer wieder gekonnt gezügelt werden, ist Timo Fritsche und Giuseppe Lo Vasco, seinem Kompagnon und Gastgeber im Oz, hoch anzurechnen. Denn genau dieses Unerwartete macht den Reiz aus, sich auf eine abenteuerliche Reise durch neun oder gar zwölf völlig unterschiedliche vegetarische Gänge zu begeben (für 194 beziehungsweise 220 Franken), ohne dass dabei auch nur eine einzige Sekunde der Gedanke aufkommt, das sei langweilig oder da könnte etwas fehlen (schon gar nicht Fleisch!).
Dazu trägt die hervorragende Getränkebegleitung des Gastgebers Lo Vasco einen wesentlichen Anteil bei (zusätzlich 165 für den Neun-Gänger oder 190 Franken für das grosse Menü), indem sie all die kleinen sensorischen «Ausreisser» an unterschiedlich langer Leine hält auf der Pferdekoppel des feinen Geschmacks.
Einmal unterstreicht der 29-jährige Italiener mit Wurzeln in Sizilien und Apulien ganz bewusst das aufgeregt Wilde und empfiehlt zu einem frischen Gang einen ausgesuchten biologisch-dynamischen Natural Wine (zum Beispiel zur Vorspeise «Grüne Erdbeere – Basilikum – Staudensellerie» einen Love and Pif von Yann Durieux, Jahrgang 2018, aus der Bourgogne Aligoté). Oder aber er beruhigt die kleinen, nervösen Pferdchen, indem er einen ungezuckerten, gerösteten und gekühlten «Hojicha»-Grüntee als Durstlöscher einschenkt zum Hauptgang mit Karotte, Miso und Kimchi. Und später tischt Sommelier Lo Vasco, der in der Schweiz bereits im Badrutt’s Palace, im Baur au Lac, dem Igniv in St. Moritz und schliesslich im Schloss Schauenstein sein Können unter Beweis gestellt hat, einen wunderbar erfrischenden Rhabarber Wasserkefir (aus gegorener Milch) auf zum letzten Teller vor dem Dessert, einem Rhabarber-Kopfsalat-Joghurt.
Dass den Gast nicht nur die Getränkeauswahl, sondern auch einzelne Gerichte zum Schwärmen bringen, sollte bei einem Meister seines Fachs wie Andreas Caminada eigentlich nicht verwundern. Erstaunlich ist aber doch, welche wunderbaren Geschmäcke der Bünder Ausnahmekönner zusammen mit Timo Fritsche auf den Teller zu zaubern vermag: Das Safran-Gericht mit Aubergine beispielsweise schlägt alles, was der Schreibende – an sich ein überzeugter Karnivor, sofern die Herkunft und die Qualität des Fleisches überzeugen – je an vegetarischem Essen aufgetischt bekam:
Über mehrere Stunden wird die Aubergine im Öl konfiert und schliesslich in einem Safransud zusammen mit einer sämigen Safransauce (Rouille), Weinbeeren, Trauben, Rucola, einer gegrillten Aubergine (zuvor in einem speziellen Sud eingelegt) sowie einem Tupfer Sauce aus schwarzem Knoblauch (himmlisch!) aufgetragen. Die Konsistenz ist ähnlich wie bei einem sehr zarten Fleischstück. Und die geschmacklichen Noten sind, man kann es nicht anders nennen, göttlich – und schlagen selbst die im Green Egg grillierten Erbsen oder die Karotte, besser gesagt die vielen Karotten, die mittels unterschiedlichsten Techniken veredelt wurden, bevor sie zu einem neuen Ganzen vermengt werden, das nur mit «Rüebli pur» bezeichnet werden kann – oder wie es Caminada auf seine typisch reduzierte Art bezeichnet: Karotte – Miso – Kimchi.
Hingehen, staunen und geniessen
Ein Besuch des neuen Restaurant Oz ist, auch wenn die Preise für die fleischlosen Mehrgänger und die Getränkebegleitung doch recht happig erscheinen, wärmstens zu empfehlen. Das rein vegetarische Menü ist für die Schweiz in dieser Akkuratesse einmalig, sowohl in Bezug auf seine Zusammenstellung als auch auf die gebotene Qualität und den geschmacklichen Genuss. Die Getränkebegleitung überrascht und begeistert. Und auch der rämliche Kontext, also die Inneneinrichtung, überzeugt trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer starken Gegensätze: schwarze Wände, weisser Tresen, blaue Samtvorhänge, braune Ledersessel auf filigranen, schwarzen Beinen. Ein gelungener Mix aus Farben, Formen und Materialien, der in seiner Gesamtheit eine wohnliche Behaglichkeit vermittelt. Und last but not least seien auch die beiden Gastgeber, Timo Fritsche und Giuseppe Lo Vasco, lobend erwähnt: Sie machen vor dem Gast, der sich eher an einem intimen Chef’s Table als in einem Restaurant fühlt, eine tolle Figur und führen gekonnt, sympathisch und mit Feingefühl durchs anspruchsvolle Programm. Chapeau.
Text: Philipp Bitzer, Bilder: Gaudenz Danuser
Das Menü, das für marmite zubereitet wurde (und die Getränkebegleitung):
Frisches und eingemachtes Gemüse aus dem Garten (Résonance – Champagne Marie-Courtin Extra Brut)
Grüne Erdbeere – Basilikum – Staudensellerie (2018 Love and Pif – Yann Durieux)
Kräuter aus dem Garten (Italian Grape Ale – Birreria Pacifi.ch)
Erbse – Brunnenkresse (2018 Bourgogne Blanc – Antoine Jobard)
Karotte – Miso – Kimchi (Hojicha)
Aubergine – Saffran – Schwarzer Knoblauch (2017 Ixilune – Imanol Garay)
Rhabarber – Kopfsalat (Rhabarber Wasserkefir)
Brombeere – Fichtennadel – Honigkefir (Bild siehe im Text oben)
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