Schmecken, als wärs das erste Mal

22. Juni 2019

Nach erfolgreichen Stationen in Vitznau und Vals macht sich Sven Wassmer in Bad Ragaz daran, die allerhöchsten Zinnen der heimischen (Alpen-)Küche zu erklimmen. Das Pre-Opening seines neuen Fine-Dining-Restaurants Memories gab einen Vorgeschmack darauf, wie er dieses ehrgeizige Ziel erreichen will.

Sinnbildlich für Sven Wassmers Aufbruch in neue Sphären stand auch der Zeitpunkt seines Pre-Openings. Die Türen des Memories öffneten sich erstmals just am längsten Tag des Jahres, und so konnte und durfte sich die neu zusammengesetzte Crew die Zeit nehmen, die es braucht, um sich für kommende und vor allem konstante Spitzenleistungen richtig und nachhaltig aufzustellen.

Neuland – auch in innenarchitektonischer Hinsicht

Man betritt im Memories ja praktisch auf jeder Ebene Neuland: Das Speiselokal ist – abgesehen vom restaurierten Intarsienparkett des alten Quellenhof (das per Zufall auf dem Dachboden entdeckt wurde) – brandneu. Seine Inneneinrichtung ist auf ein aufgeschlossenes, modernes Publikum ausgerichtet, das nach aussen hin vielleicht weniger Wert auf Etikette legen mag, aber deswegen nicht weniger anspruchsvoll ist in Bezug auf das gastronomische Angebot und die kulinarische Qualität. Und dies bitte in einem Setting, das alle Sinne, also auch das Auge und das Ohr, ansprechen und zufriedenstellen soll.

Der grosse, offene Raum wird durch semitransparente, hölzerne Abtrennungen unterteilt.

Die Materialisierung ist bewusst zurückhaltend: Stein (Granit) vom nahen Berg, Holz aus den umliegenden Wäldern, warme erdige, schlammige und goldene Töne. Silber. Glas. Weiches Leder. Eine äusserst gelungene Anordnung der Tische, die sowohl offen im Raum als auch in halboffenen und semitransparenten Nischen und Kojen aufgestellt sind. Eine kleine Bartheke wurde direkt neben der offenen Küche platziert, laut General Manager Marco Zanolari eigens für den (Hotel-) Gast, der sich spontan dazu entschliesst, im Memories zu speisen – doch die Tische sind schon besetzt. Durch diese geschickte Gemengelage ensteht weder bei Vollbesetzung noch in saisonalen Abschnitten, in denen weniger Gäste zugegen sind, der Eindruck von Fülle oder Leere.

Personal ist Teil des Ensembles

Der Eindruck von Leere kommt allerdings schon deshalb nicht auf, weil sich das gesamte Personal praktisch rund um die Uhr im Lokal aufhält: Der Service ist Teil des Ensembles und verschwindet nur punktuell hinter den Kulissen, wenn abgeräumt wird oder gerade neues Geschirr und Besteck oder Getränkenachschub gefordert ist. Die Kochbrigade hantiert in der offenen, hellen Küche an drei langen Blöcken, auf denen die Speisen vor den Augen des Gastes langsam enstehen, bis sie schliesslich am Ende des Blockes am Pass angelangt sind, vom Service übernommen und an die Tische gebracht werden. Dies alles geschieht in einer Ruhe, Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, die sich sogleich auf den Gast überträgt und zur rundum entspannten Atmosphäre beiträgt.

Blick in die offene Küche mit den drei «Produktionsstrassen».

Doch das Wichtigste ist und bleibt natürlich das Menü. Der Gast hat die Wahl zwischen einem Neun- und einem Zwölfgänger. Die Preise dafür sind auf den ersten Blick hoch, 330 Franken für das grosse Menü, 260 Franken für das kleinere. Doch wenn man diesen Preis auf das einzelne Gericht herunterbricht, ist das weniger als 30 Franken pro Teller, was angesichts des Aufwandes, der bei der Zubereitung der einzelnen Speisen betrieben wird, alles andere als übertrieben ist.

Der Aufwand ist enorm. Das Essvergnügen genau so.

Dramaturgie ist Chefsache

Die Abfolge der Gerichte ist vorgegeben, wobei selbstverständlich Rücksicht genommen wird auf individuelle Vorlieben (und Abneigungen) sowie Unverträglichkeiten. Aber die Dramaturgie ist vom Chef bestimmt, und seine Philosophie glasklar: Keine aus ethischen oder ökologischen Gründen heikle Delikatessen wie Foie Gras, Froschschenkel, Hummer oder von weither gekarrten exotischen Luxusprodukte (heimischer Kaviar hingegen darf dazwischen schon da und dort mal aufblitzen). Vegetarisch ja gerne, vegan nein. Aus dem einfachen Grund, weil Milchprodukte für Sven Wassmer integraler Bestandteil der von ihm praktizierten Alpenküche sind.

Die Getränkebegleitung kann sowohl alkoholhaltig für 145 Franken als auch alkoholfrei (für 120 Franken mit unter anderem Kombuchas, koreanischem Tee, Rhabarber-Spritz und vielem mehr) gewählt werden. Auch bei der Weinbegleitung geht man neue Wege: Statt einem Schaumwein wurde beim Pre-Opening zu den Amuses bouches beispielsweise ein erfrischender Cidre gereicht, und der eine oder andere Wein geht auch schon mal in Richtung Orange.

Hoher Anteil an vegetarischen und Fischgerichten

Auffallend ist auch, welch hohen Stellenwert Fisch und Gemüse in Sven Wassmers Küche haben: Im zwölfgängigen Menü hat es gerade einmal zwei Fleischgänge (weisses Alpschaf aus dem Berner Oberland an Wiesenkräutern und mit einem Föölabrot sowie ein äusserst schmackhaftes Flat Iron vom Angus Rind an Peperoni). Die Highlights des Menüs sind allerdings andere: Das Partvaler Rüebli an Bergsanddorn und Rollgersten-Koji ist eine Offenbarung und hat das Zeug zum Signature Dish. Und die beiden Fischgänge, ein Heilbutt mit fermentiertem Spargel und Salzzitrone sowie der Saibling aus dem Val Lumnezia an gebranntem Sennen-Rahm und Tanne – diesen Gang hat Sven Wassmer schon länger in sein Menü auf- und hier im Memories übernommen –, gehören mit zum Besten, was in der Schweiz punkto Fisch aufgetischt wird.

Wenn der Salat zum Dessert wird

Beim Dessert wirds dann richtig abgefahren: Der «Knusper Salat» von Pâtissier Andy Vorbusch (er kam aus der Dolder-Küche nach Bad Ragaz) scheidet zwar etwas die anwesenden Geister. Doch wer, wie der Schreibende, eher zu den salzigen Typen gehört, wird seine helle Freude an diesem Meisterwerk haben. Und jenen, die es lieber klassisch und süss mögen, denen wird anschliessend ein herrliches Meringue gereicht, das gefüllt ist mit Rheintaler Erdbeeren, gesüsst mit Prättigauer Berghonig und bestreut mit Holunderblüten.

Friandises warten auf den Service.

Aufgrund des persönlichen Erlebnisses, wie hier die Sinne des Gastes auf zurückhaltende, unprätentiöse und leise, aber wohl genau deswegen umso nachhaltigere Weise stimuliert werden, kann der Schreibende den Besuch des Memories nur empfehlen. Hier wird Küche auf höchstem Niveau zelebriert, ohne dabei die Bodenhaftung zu verlieren. Hier wird auf undogmatische Art einer (möglichst) lokalen und naturnahen Küche gehuldigt, die auf Produkten basiert, von denen nicht nur die Herkunft bekannt ist, sondern auch die Werte, die in ihren Anbau, ihre Herstellung und ihre Veredelung eingeflossen sind.

Das alles kommt geschmacklich derart ausgewogen und harmonisch daher – ohne dass dazwischen nicht auch einmal ein sensorisches Überraschungsmoment eingebaut wird, das einen durchzuckt und neugierig macht auf alles Weitere, was da noch kommen mag –, dass auch bei mehrmaligem Kosten wohl immer wieder sowohl alte Erinnerungen, eben Memories, aufleben und gleichzeitig ganz neue Erfahrungen gemacht werden können. Oder wie es Sven Wassmer beschreibt, was ihm vorgeschwebt hat für seine Gäste: «Wieder schmecken soll es, als wäre es das erste Mal.» Das ist ihm und seinem Team vollauf gelungen. Und das verdient Respekt.

Hier geht es zum Kurz-Interview, das marmite wenige Tage nach dem Pre-Opening mit Sven Wassmer geführt hat.

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