Bligg to the roots

28. November 2018

marmite hat den Schweizer Musiker Bligg auf eine Reise zu den kulinarischen Wurzeln seines Grossvaters entführt. Weil Neapel die schönste Stadt der Welt ist und weil man dort am besten isst. Basta.

Bilder: Nicolas Righetti

«Genau so habe ich es mir seit meiner Kindheit immer vorgestellt. Kaum zu glauben, dass sich mir jetzt diese Bilder eins zu eins vor den Augen präsentieren, die ich stets im Kopf hatte», sagt Bligg (41). Er schaut aus dem Fenster, beinahe zum letzten Mal. «Die einzige Regel auf unseren Strassen ist, dass es keine Regeln gibt», sagt Carmine. Carmine ist Taxifahrer. Er hupt, flucht, fährt. Knapp vorbei. Beinahe hätte es übel ausgehen können. Nein, das ist kein schlechter Film, das ist die schönste Stadt der Welt, und wie immer, wenn es um wahre Schönheit geht, muss man genauer hinsehen. Denn hier gilt zunächst das Gesetz des Stärkeren, des Schnelleren, des Lustigeren, des Listigeren, des Lauteren, des Reicheren, des Böseren, des Besseren.

Alleine die neapolitanischen Taxifahrer sind eine Reise wert

«Gott hat die Welt erschaffen», faselt Carmine, während er nicht auf die Strasse schaut. «Und er hat bewusst an jedem Ort Fehler eingebaut», gestikuliert er, «sonst wäre die Erde ja das Paradies.» Schon klar. Die Ampel schaltet auf Rot, was dem Spannungsbogen seiner Erzählung keinen Abbruch tut, weil Carmine auch bei Rotlicht die Strasse queren kann. «Als Gott fertig war, entspannte er sich, schaute den Golf von Neapel an und bemerkte, dass ihm hier selbst ein grosser Fehler unterlaufen war: Alles war wunderschön geraten, wie aus dem Bilderbuch, tutto perfetto», erzählt er weiter mit den Händen und drückt mit dem Fuss aufs Gaspedal. «So erschuf Gott zum Ausgleich die Neapolitaner», sagt Carmine, der lebende Beweis seiner Erschaffungstheorie. Benvenuti a Napule.

«Mein Nonno hat sich in seinem Schrebergarten in Dübendorf einen Napoli-Mikrokosmos geschaffen» Bligg

Wir sind in einer merkwürdigen Geschichte gelandet. Sie handelt vom Schweizer Musiker Bligg, dessen Grossvater Antonio Jannotti aus der Provinz Benenvento stammt und 1954 in die Schweiz ausgewandert ist (höre «Secondos» vom Bligg-Album «0816» oder «1954» vom aktuellen Album «KombiNation»). Antonio hat sich an der Zürcher Langstrasse verliebt und ist in der Schweiz geblieben. «Aber das Essen hat er mitgenommen», sagt Bligg. «Diesbezüglich ist er krass, denn er nimmt sein eigenes Essen sogar mit ins Restaurant und natürlich auf jede Familienfeier. Wenn ich koche, bringt mein Nonno seinen Tupperware-Behälter mit», sagt er. «Er meint das nicht böse, und das hat auch nichts mit meinen Kochkünsten zu tun», erklärt der Enkel und vermutet, dass Nonno wahrscheinlich den Geschmack seiner Heimat in der Schweiz bewahren wolle. «Darum hat er sich in seinem Schrebergarten in Dübendorf einen Napoli-Mikrokosmos geschaffen.» Bligg war noch nie in Napoli. Das wird also eine Reise zu seinen «roots». Zur kulinarischen Identität, zu allem, was er bisher nur aus Erzählungen gekannt hat. Wir sind keine fünf Minuten unterwegs und schon in der Vergangenheit. Essen und Musik verbinden. Ja, das wird eine recht tendenziöse Liebesbekundung an eine Stadt werden, denn mit Distanz kommt man hier nicht weit. Weiter kommt man mit Witz, Charme und Schauspiel, denn in Neapel funktioniert wenig so gut wie das Hier und das Jetzt. Nach der Wildwesttaxifahrt stehen wir schweissgebadet und sicheren Fusses auf der Piazza Garibaldi vor dem Hauptbahnhof Neapels. Es ist heiss. Es ist laut. Es stinkt. Die Luft vibriert. Sie flimmert. Sie tanzt. Sie wummert. Sie könnte zerreissen. Ein Spektakel der Energien; es gibt keinen schöneren dreckigen Ort. Eccoci qua. Das Konzert möge beginnen.

Die beste Reisevorbereitung? Üben Sie schon einmal zu Schwatzen

«Ich koche extrem gerne», verrät Bligg, der sich jetzt schon aufs Rentnerleben freut, weil er dann nur noch kochen könne. «Kochen und Musikmachen ist in meiner Wahrnehmung dasselbe. Es geht um Zutaten, ums Kombinieren, das Timing und beides führt man sich zu Gemüte», sagt er. Die Sonne knallt uns mit voller Wucht auf die Birne. In diesen, aber nur in diesen Mittagsstunden, liegt Napoli im Lummerland. Vorher und nachher wird den ganzen Tag und die halbe Nacht vor allem geschwatzt. Wer das nicht mag, muss nicht nach Neapel, denn alle, vom Taxifahrer über den Carabinieri bis hin zum Barbiere sind neugierig und haben Geschichten auf Lager, die sie loswerden wollen – ja, müssen! Somit ist Bligg, der in seinen Songs Geschichten transportiert, ein Neapolitaner? Ob er das Zeug dazu hat, werden wir erst noch sehen, denn es geht bei diesem Trip auch darum zu lernen, was den guten Geschmack ausmacht. Wie man einen Espresso presst. Einen Lorbeerschnaps würdigt, eine Pizza backt, Mozzarella mozzt, Parmigiana schichtet und Calamari frittiert.

Nur würdige Gäste werden gut behandelt

Nach Napoli reist, wer gerne isst. Wer kurz mit dem Kreuzfahrtschiff landet, wird abserviert und ausgenommen. Überhaupt wird, wer sich touristisch verhält, bemitleidend bedient und verhalten belächelt. Wer sich dagegen als würdiger Gast erweist, also immer wiederkehrt, wird weiterempfohlen, gut behandelt – und er wird nirgendwo sonst in Italien besser essen. Dieses «Weiterempfehlen» kennt man sonst von Japan. Aber es existiert auch in Napoli. Es ist eine Sache der Ehre. Einen Tisch zu reservieren ist keine Kunst. Aber nichts ist hier wichtiger, als der Anruf, also die Tischreservation durch eine relevante Person des Vertrauens. Der Spruch danach lautet immer gleich: «Così vi trattano bene.» Jetzt behandeln sie euch gut. So geht das.

Ansonsten passiert, was uns in der Pizzeria Brandi passiert ist. First Stopp, Sonntagabend, das Hotel hat auf den Namen des Hotels gebucht. Keine gute Idee. Kurze Manöverkritik: Touristenservice, ungepflegte Weinkarte, korrekte Pizza. Für diesen Preis isst man an anderen Orten Napolis wesentlich besser, aber es hat schon alles so sein müssen und seinen Grund, denn man muss hier beginnen, bevor man das Wort Pizza überhaupt in den Mund nimmt. Denn hier, und nur hier, nennt man den Meisterpizzabäcker seit 1780 immer Don Piè oder Pietro, der Pizzaiuolo. Am 11. Juni 1889 wurde Raffaele Esposito, der damalige Pietro, il Pizzaiuolo, von einem Hofdiener aufgesucht, der ihn einlud, sich in die Residenz von Capodimonte zu begeben, um einige Pizze für die königlichen Herrschaften, die sich in Neapel aufhielten, zuzubereiten. Für die Königin fertigte er verschiedene Sorten, aber sie, die fast alle kostete, schien allen anderen die Pizza in den Landesfarben mit Tomaten, Basilikum und Mozzarella vorzuziehen. Aufgrund dieses königlichen Urteils wurde diese Pizza fortan Pizza Margherita genannt. So steht es Wort für Wort in der Geschichte des Lokals geschrieben und drum wird es wahr sein und deswegen wundert es auch kaum, dass alles, was Rang und Namen hat, in der alteingesessenen Pizzeria Brandi verkehrte und verkehrt. «Pronto c’a pala!», tönt es aus der Küche, und der Ausspruch bedeutet etwa so viel wie, die Pizza ist fertig, oder wörtlich: Fertig mit dem Ofenschieber! Das lässt sich Bligg nicht zweimal sagen, und die herzlich-stolzen Pizza­iuoli erklären ihm jeden Schritt zur perfekten Pizza. «Es dauert 60 Sekunden, im Ofen wird die Pizza dreimal gedreht, sodass sie auf jeder Seite einmal ans Feuer grenzt. Das geht extrem schnell, auch die Zubereitung sitzt, dank einer perfekten Mise en Place», sagt Don Piè, alias Bligg, der sofort eingespannt wurde und bleiben könnte. Das einzige, was wirklich Zeit verlangt, ist der Teig. 48 Stunden sollte er «gehen».

Auch wir gehen, weil Gehen in Napoli (heute) fast sicherer ist als Fahren. Am Sonntagabend flaniert die gesamte Provinz am Hafen herum, für die städtischen Taxifahrer ein Ärgernis sondergleichen. «Man sollte ihnen verbieten in die Stadt zu fahren», hat uns ein Fahrer gehustet. Apropos: Ja, rauchen im Taxi ist okay. Aber egal. Am Hafen steht ein Kuttelstand, weil Street Food in Neapel keine Modeerscheinung ist, sondern eine Lebenseinstellung. Austern, Muscheln, Früchte, Bratäpfel und eben: Kutteln. Der Verkäufer mustert uns von oben bis unten. Einmal sei er in Milano gewesen, erzählt er. Habe Hunger gehabt, erzählt er. Nachmittags, um zwei, sei es gewesen, erzählt er. Aber es habe nichts mehr zu Essen gegeben, erzählt er. Milano? Nie wieder! «A Napule se magna», ruft er aus, und Bligg soll sich jetzt, nach dem Abendessen, nicht zieren und ein paar Kutteln probieren. Doch der winkt ab: «Kutteln sind nicht mein Track.» Enttäuscht versinkt der Strassenverkäufer wieder in die Ruhestarre und auf seinem Plastikstuhl.

Montag ist Benevento-Tag. Familienbesuch, und natürlich ist es undenkbar, dass «zu Hause» nicht gekocht wird, nicht erzählt wird, und es ist auch nicht denkbar, dass Bligg keine Provolone und keinen Salami für seinen Nonno mit nach Hause bringt. Zum Einkauf werden wir in die beste Käserei der Gegend geführt, zu Giuseppe D’angelo in die Caseificio la Valle, wo selbstverständlich kein Provolone, sondern Mozzarella hergestellt wird. Er wird später als Hauptgang mit Gurkensalat serviert werden. Dazu frittierte Zucchettiblüten, Teigwaren mit Tomatensugo und Basilikum (immer ohne Parmesan) und und und. «Der Mozzarella kommt nicht in den Kühlschrank», mahnt Giuseppe, man kauft ihn jeden Tag frisch und lagert ihn im mitgelieferten Wasser. Bligg geht sichtlich behutsam ans Werk mit den Milchkugeln, denn «mozzare», das bedeutet so viel wie abtrennen. Man trennt aus einer grossen Masse kleine Kugeln ab, so entsteht der Mozzarella. Alles klar?

Gleich nebenan, im Panificio Tarallificio Casella, steht Ester Franco, die in Jugendjahren in Zürich gearbeitet hat. Mit dem erwirtschafteten Geld ist sie zurückgekehrt und führt seit 1980 diese mustergültige Bäckerei, in der es Taralli in allen Ausführungen gibt und Pizze (ohne Mozzarella), Brötchen, Brot, Focacce, Ciambelle, eceteraecetera. Es ist eine der letzten Oasen des Bäckereihandwerkes, wo die Kunden Schlange stehen. Uns wird das klar, als uns Signora Esterina, wie sie hier genannt wird, voller Stolz ihre grosse Backstube und das soeben zubereitete Backwerk zeigt. Beeindruckt und mit vollem Bauch fahren wir unter der glühenden Mittagssonne zurück in die Metropole. «Wahnsinn», sagt Bligg, «mich hat sehr beeindruckt, wie die Zutaten gehegt und gepflegt werden, der Garten, das eigene Hausschwein, das sie selbst zu Salami verarbeitet haben, die frischen Eier. Eben wurde mir klar, dass mein Grossvater das ganze Setup, also Benevento, in der Schweiz rekonstruiert hat.» Die Frage, ob er von nun an auch sein eigenes Essen ins Restaurant oder ans Konzert mitbringen würde, verneint der Musiker. Aber dennoch: «Kulinarik begleitet mich seit Kindertagen, und hier habe ich den Ursprung dieses Geschmackes entdeckt. Es ist ein feiner Grad zwischen zu viel und zu wenig. Man würzt mit etwas Anis, alles eine Frage der Kombination, ein bisschen zu viel und alles kippt, das ist wie mit der Musik, wenn ein Lied zwei BPM zu schnell ist, dann kann es komplett auseinanderfallen», erzählt er.

Scampia ist quasi das Schwamendingen von Napoli

Bligg ist in Napoli angekommen, genauer in Scampia, das «Schwamendingen» Neapels. Kriminalität ist Realität, und nach ein paar Fotos werden wir nett, aber deutlich per Megafon aufgefordert, den Platz vor den Vele di Scampia zu verlassen. Zu gerne hätten wir noch über die Einflüsse des Architekten Le Corbusier auf den sozialen Wohnungsbau Neapels im Generellen und diese Häuser im Speziellen gesprochen, aber instinktiv spürt man, wann genug ist. Auch wenn uns der sehr zuvorkommende Giuseppe, unser Chauffeur, Kokain und Heroin sowie eine kleine Hausführung angeboten hat – wir verzichten. «Bei der Musik geht es zuallererst um den Vibe», sagt Bligg in unserem schwarzen Tour-Van mit den schwarz getönten Scheiben. «Meinem dreijährigen Sohn ist egal, welche Band mit welchen Coolnessfaktoren da am Start ist, welchen Codex die haben oder wie «kredibil» die sind. Er und alle Kids gehen nur auf den Beat ein, eine schöne Wahrheit, die man als Musiker nicht vergessen sollte. Aber klar habe ich ein geeichteres Ohr und höre beim zweiten Mal auf die Melodie; sie steht bei mir vor dem Rhythmus. Die Melodie ist eine Ausdrucksform, viele Musiker fangen mit dem Rhythmus an. Aber wir alle hören im Bauch der Mutter als Erstes den Herzschlag – quasi den BPM – der Mutter», sagt er, und hey, das klappt schon ganz gut mit dem Parlieren und dem Neapolitaner werden.

Angekommen ist, wer nicht mehr bestellen muss

«Komm, das musst du aufschreiben», sagt er und diktiert: «Der Startpunkt des Lebens ist die Kombination zwischen Musik und Essen, sie findet im Mutterleib statt, mit der Ernährung durch den Körper und dem Herzschlag der Mutter, das ist unser Grundbeat», sagt er, und Napoli hat ihn jetzt definitiv. «40 Jahre lang hat man mir von hier unten erzählt. Es ist eine geistige Vorstellung, die jetzt zu Fleisch geworden ist», schwärmt er. Und ich habe Lust auf Fisch. Und zwar in einem der besten, verstecktesten und unkonventionellsten Fischrestaurants der Stadt, in das ich einst von Mimmo eingeführt wurde. Dazu muss man wissen, dass Mimmo der Fahrer von Marcello Mastroianni war und dass dieser als ausgewiesener Ehrengast im Dora ein und aus ging. Und so werden auch wir herzlich empfangen und an den engsten Tisch des Lokals geführt. Wobei, jeder Sitzplatz hier drinnen ist eng, was aber dem Tempo des Bestellvorganges und der Qualität der Fischspezialitäten nicht schadet.

Wir müssen nicht bestellen, weil bestellen ab Karte uncool ist. So nicken wir und lassen uns unter grellem Neonlicht einen klitzekleinen Oktopus (aus dem Lorbeerwasser) servieren, Frittura di Calamari, allerlei Muscheln, Linguine alla Dora, Spigola vom Holzkohlegrill mit grilliertem Bittersalat. «Ich liebe die Calamari hier», zeigt sich Bligg begeistert, und wir merken, dass es in dieser Küche wie beim Blues mit dem Teufel zu und hergehen muss, auch wenn die Köche mit ihren Tätowierungen eher aussehen wie Hardrocker. «Beim Blues geht es nicht um die Töne, die du spielst, es geht um die Töne, die du nicht spielst», sagt Bligg, und im Ristorante da Dora verhält es sich ganz genau gleich: Die Grundqualität der einzelnen Zutaten ist derart geschmackvoll, dass man meistens nur einen Akkord mehr benötigt, und dieser liegt vor unserer Nase auf dem Tisch: Zitrone. «Hier ist nichts überorchestriert, alles ist arrangiert, geschmacklich einfach, direkt und perfekt. Recht spartanisch kommt es mir vor, die haben einfach die Verpackung weggelassen, damit das Echte unmittelbar zum Vorschein tritt. So etwas ist nicht kopierbar», sagt Bligg, aber es ist aller Einfachheit zum Trotz auch nicht leicht verständlich.

Nichts hält ihn, den Hobbyfischer, noch auf seinem Platz. Die ultraenge Hitzeküche mit ihrem kleinen Holzkohlegrill verlassen wir an jenem Abend nicht mehr. Zu begeistert sind die Köche, als sie erkennen, wer ihnen da gerade über die Schulter blickt. Alles zeigen sie uns, im Gegenzug wollen sie Video um Video sehen, ein bisschen mitsingen, nichts verstehen, es sich übersetzen lassen, uns nochmals etwas kleines essen lassen, fotografieren, posieren, Bligg erzählt, die Köche hören zu, und es kommt mir vor, als würde ein neapolitanischer Faun aus mir quellen, wenn ich übersetze, was der Musik-Star aus der Schweiz sagt. Es geht um Sex. Um Klimax. Um Aphrodisiakum. Um Düfte. Um den Höhepunkt. Es geht ums Universum, alles hängt jetzt mit allem zusammen, aber irgendwann müssen wir gehen, also fahren. Mit einem galanten Taxifahrer, der uns vorher aber noch die halbe Stadt zeigen möchte, uns Limoncello offeriert und Videos sehen will, denn es hat sich herumgesprochen, dass hier ein Musiker abgeholt werden soll. Ich würde den Status als «Bligg ist jetzt bei Dora eingeführt» gelten lassen.

Das beste Restaurant der Stadt kennt fast niemand

Und auch bei Maria, Dora und Lucia Baldini ist er «benvenuto». Die Mutter (Maria) und ihre zwei Töchter und der Bruder Renato leiten das beste Restaurant der Stadt, wenn es um die neapolitanische Landküche geht. Mamma Maria sitzt stil­echt am grossen Tisch («auf der Hauptbühne»), die Sonnenbrille nimmt sie nicht ab. Sie mustert uns, aber lässt uns gewähren. Das Eis ist gebrochen, weil es hilft, wenn man die Speisekarte wie einen Songtext auswendig kennt und die meisten Gerichte mindestens einmal gegessen hat. So gelangen wir ohne Umschweife direkt in die Küche, wo Lucia liebevoll vorzeigt, wie man im Amici Miei eine korrekte Parmigiana zubereitet, wie man Baba glasiert, wie man Orecchiette kocht. Fantastico, die Schwärmerei kennt keine Grenzen, und wir sind beinahe die einzigen Gäste, die sich an diesem heissen Mittag im dunkel gehaltenen Lokal vergnügen. «So eine Parmigiana ist eine Kunst», lobt Dora die Kochkünste von Bligg. Wie recht sie hat.

«Eigentlich egal, wo du dich in Napoli hinstellst, irgendwie bist du überall e chli im Weg» Bligg

Was sie uns ebenfalls ans Herz gelegt hat: Orecchiette e Broccoli und Polpette al Ragù. Beide Gerichte sind Arien. Sie berühren, weil sie eingängig sind, weil sie fadenscheinig einfach, aber eigentlich unerreichbar perfekt zubereitet sind. Man kann mitsummen, aber man wird nie mitsingen können. Ich verstehe, warum das Lokal ausgerechnet in Japan von vielen Gourmetführern verehrt wird und warum neben uns eine japanische Familie genussvoll tafelt. Weil es hier um Konsistenzen geht. Noch nie habe ich irgendwo sonst Orecchiette gegessen, die besser waren, und das hat nichts mit dem bitteren Broccoli zu tun. Es ist die Konsistenz der Orecchiette, die mich an Quallen erinnert hat. Wie kann das sein? Knackig im Inneren, elastisch aussen. Orecchiette sind Pasta-Quallen … solche Gedanken und solche Geschmackserlebnisse sind nur hier möglich.

Und wer denkt, dass Polpette einfach Hackfleischbällchen seien, ist ebenso bemitleidenswert wie alle jene, die im August versuchen, hier einen Tisch zu bekommen. Im Ferragosto ist der Laden dicht. Pinienkerne und Sultaninen findet man in den lockeren Hackfleischballen. Auch hier: Geschmack, Überraschung, Konsistenz. Dazu eine gradlinige Tomatensauce, die etwas Säure liefert, finito. «Das ist Napoli», ruft Bligg. Recht hat er. Das Ristorante Amici Miei gehört unter UNESCO-Weltkulturerbe gestellt, genauso wie die Ausstrahlung von Dora, die natüüüüürlich wissen möchte, wo wir zu Abend essen. «Fisch!», sagt Marco.

«Da Dora», antwortet Dora. «Geht nicht», werfe ich ein. Da waren wir schon. Dann wird es ruhig, und Dora denkt. Das Schlimmste beim Einführen in ein Lokal ist, wenn das Lokal nicht den Erwartungen entsprechen sollte. Dann verlieren alle ihr Gesicht. Entschlossen nimmt Dora den Telefonhörer in die Hand und reserviert bei Maurizio einen Tisch im Terrazza Calabritto. Man wird uns gut behandeln. Dann gibt es keinen Limoncello zum Abschied, sondern einen Lorbeerschnaps. Aufs Haus.

Qualität kennt keine Zufälle

Zum ersten Mal kommen wir uns vor, wie in einem Film, dessen Drehbuch Roberto Saviano geschrieben haben könnte. In den Fauteuils, in der Restaurantbar im Erdgeschoss sitzen sehr elegant gekleidete Signori. Das hier ist ein anderer Groove. Viel Verpackung, könnte man sagen. Aber das Essen! Dora hat nicht zu dick aufgetragen, und die Spaghetti aus der Seespinne, die Linguine … alles auf dem Punkt, alles kaum ein Zufall. Unser letzter Abend. Zeit, etwas melancholisch zu werden? Bligg holt aus: «In Napoli, im Gambrinus, habe ich viel über die Kaffeekultur mitgeschnitten. Aber auch übers soziale Miteinander. Wir haben einen Caffè getrunken und zwei bezahlt. Der zweite ist für jemanden, der jetzt gerade kein Geld hat, um sich einen Kaffee zu gönnen. Diese Lebenshaltung habe ich von meinen Grosseltern gelernt, sie hat mich als Mensch und als Musiker geprägt. Du hilfst mir, ich helfe dir. Wir sind hier in Napoli eingefahren und durften überall alles machen, sie haben uns alles gezeigt, uns grossherzig empfangen, und wir haben kein einziges Mal ein Nein kassiert. Dieses Geben und Nehmen vermisse ich in der Schweiz, bei uns ist jeder auf sich gerichtet. Ich bin Musiker, mein Job ist es, Menschen zusammenzubringen, auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Aber beim Essen und Kochen ist das auch so. Eigentlich ist alles sehr einfach; wie in Napoli. Man setzt sich, spricht, und dann läuft es. Aber bei uns haben sich mit der Professionalisierung und der digitalen Vernetzung gewisse Mechanismen eingeschlichen, die alles nur noch komplizierter machen. Dabei braucht es – wie in den Rockerclubs auch – einfach nur einen runden Tisch. Übrigens, wir nehmen derzeit einen Stammtisch mit auf unsere Tour. Ja, die Gäste, die während des Konzerts dort sitzen, dürfen rauchen.»

Kein Besuch ist vollständig

ohne das Schlangestehen vor der besten Pizzeria Bevor wir abfliegen, gilt es allerdings noch eine klitzekleine Sache abzuhaken. Schlange stehen. Und zwar vor der Antica Pizzeria da Michele, die zu den besten der Stadt gehört. Pizza ist in Neapel eine Art heiliges Fast Food, aber die vielen Menschen haben daraus eine ewige Warteschlaufe gemacht, und so steht man da mit einem Nummernzettelchen in der Hand und wartet. Wartet. Wartet auf der Strasse. «Eigentlich egal, wo du dich in Napoli hinstellst, irgendwie bist du überall e chli im Weg», sagt Bligg, und dann sind wir wirklich weg.

Text: Andrin C. Willi

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